In unserer Interview-Reihe „Digital Services im Kerngeschäft Komposit“ veröffentlichen wir heute den achten Teil.

Dabei beschäftigen wir uns mit dem Thema: Schritt für Schritt zum KI-versierten Unternehmen

 

 

 

Interviewpartner:
Johannes Humbert, Gründer und Gesellschafter tetrel GmbH, Berlin

www.tetrel.ai

 

 

 

 

Jürgen Wulf: Sehr geehrter Herr Humbert, bitte stellen Sie sich kurz vor.

Johannes Humbert: Mein Name ist Johannes Humbert. Ich bin einer der Gründer und Geschäftsführer von tetrel.ai. Ursprünglich als Versicherungskaufmann gestartet, bin ich seit 10 Jahren im Management von Digital-Unternehmen tätig und maßgeblich damit betraut, Geschäftsmodelle rund um technische Innovation zu entwickeln und zu etablieren.

Jürgen Wulf: Was ist die Vision vom Unternehmen?

Johannes Humbert: tetrel hat es sich zur Aufgabe gemacht, selbstlernende Systeme – also echte Künstliche Intelligenz (KI) – für seine Partner anwendbar und umsetzbar zu machen. Wir leisten strategische Beratung zum Thema und sind im Kern Lösungsentwickler. Pragmatismus und Wertigkeit sind uns besonders wichtig – wir wollen Lösungen entwickeln, die unserer Partner voranbringen. Die Wirksamkeit von KI wird in Europa noch massiv unterschätzt. Das darf im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und des Standortes nicht so bleiben.

 

 „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch KI“

 

Jürgen Wulf: Wer sind die Zielkunden von tetrel?

Johannes Humbert: Wir konzentrieren uns auf Versicherungen, Telekommunikationsanbieter und Banken, haben allerdings auch schon für internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen Lösungen entwickelt.

 

Jürgen Wulf: Welche Vorteile entstehen einem Kunden aus der Zusammenarbeit mit Ihnen?

Johannes Humbert: Grundsätzlich kann man sagen, dass jedes Unternehmen, welches beginnt sich mit dem Thema KI auseinanderzusetzen, bereits einen wesentlichen Schritt in die richtige Richtung getan hat.

KI ist eine Technologie, die, ähnlich wie Datenbanken bei ihrer ursprünglichen Einführung in den 1960er und 1970ern, in fast allen Unternehmensbereichen Anwendung finden kann.

Klassische Anwendungsfelder, welche ein sehr hohes Potenzial aufweisen, sind Marketing und Vertrieb. KI hilft dabei Neukunden zu gewinnen, Angebote für Neu- und Bestandskunden zu identifizieren, Kundenabwanderung zu verhindern, Preise zu setzen und vieles mehr.

Ein anderer Bereich, der gerade in den letzten Jahren extrem an Bedeutung gewonnen hat, ist das Natural Language Processing, also die Verarbeitung menschlicher Sprache. Damit lassen sich manuelle Prozesse, die auf geschriebener Kommunikation oder Dokumenten aufsetzen, häufig ganz oder teilweise automatisieren.

Es ist also essentiell sich dem nächsten wirklich großen Thema nach Entstehung des Internets pro-aktiv zu stellen.

Das erfordert besondere Kompetenzen und eine eigene Art der Arbeit. Wenn z.B. klassische IT-Projekte noch sehr vom Ansatz der agilen Arbeit profitieren, ist das mit KI schon wieder anders. Diese Projekte ähneln eher R&D Projekten (Research & Development) und sind stärker mit Ungewissheit behaftet. Das braucht Expertise und Erfahrung.

Bei uns kommen dabei langjährige Erfahrung aus strategischer Beratung, Forschung und digitaler Lösungskompetenz zusammen. Davon profitieren unserer Partner im Projekt.

Hinzu kommt, dass wir bereits regelmäßig erfolgreich für Versicherungsunternehmen tätig sind und viele unserer Lösungen bereits bis zu einem gewissen Grad standardisiert sind. Dadurch wird der Projekterfolg deutlich besser planbar.

Jürgen Wulf: Wie kann man sich ihre Dienstleistung bspw. für einen deutschen Versicherer konkret vorstellen?

Johannes Humbert: Wir unterstützen unsere Kunden in drei Bereichen. Zum einen beraten wir strategisch zum Einsatz von KI in Versicherungsunternehmen. Dann sind wir darüber hinaus vor allem Lösungsentwickler. Und zu guter Letzt haben wir ein Portfolio an Produkten, das wir in standardisierter Form zum Einsatz bringen. Ich denke dabei an Themen wie Texterkennung, B2B Kundengewinnung und Claims Management. In allen Bereichen haben wir in den letzten Monaten schöne Projekte für unsere Partner realisiert.

 

Jürgen Wulf: Welche Voraussetzungen muss ein Kunde erfüllen und wer sind die aus Ihrer Sicht relevanten Ansprechpartner auf Kundenseite?

Johannes Humbert: Die Voraussetzungen sind sehr verschieden, je nach Anwendungsfall. Grundsätzlich würde ich empfehlen, die Auseinandersetzung mit dem Thema zu starten. Nicht auf Seminaren oder auf den immer gleichen Vertriebsveranstaltungen und Messen, sondern vor Ort. So operativ und Return-of-Invest-getrieben wie möglich.

Die Anforderungen an die vorhandenen Daten werden oft überschätzt. Außerdem ist es heute z.B. auch möglich, Datenbanken ohne aufwendige Migrationsprojekte zusammenzuführen – z.B. mit modernen Fuzzy Matching Verfahren.

„Symbiose von technischer und fachlicher Expertise“

Darüber hinaus hat tetrel eine eigene Programmiersprache entwickelt, mit der auf Basis semi-strukturierter Daten Trainingsdaten für größere Modelle synthetisiert werden können. Das ermöglicht es auch, in Nischen oder in Bereichen mit sehr differenziert gelagerten Einzelfällen, leistungsstarke Modelle zu trainieren.

Es ist zwingend, sowohl technische als auch fachliche Expertise zusammen zu bringen. Hier setzen wir sehr stark auf Kooperationen. KI-Lösungen ergeben nur Sinn, wenn sie gut integriert und am Bedarf des Fachbereichs entlang entwickelt wurden. Die Branche hat immer noch das Problem, dass viele Modelle nicht über den Proof-of-Concept hinauskommen und leider sehen wir gerade interne IT-Abteilungen oft am Management oder der Fachlichkeit scheitern. Das muss nicht sein. Aber es Bedarf des Verständnisses, dass KI nicht klassische IT ist und keine einfache Weiterentwicklung statistischer Methoden. Es handelt sich um ein Set neuer Methoden, die spezifische Skills und Erfahrung im Umgang mit einer Vielzahl von Algorithmen erfordern. Hinzu kommt die rasante Entwicklungsgeschwindigkeit des ganzen Bereichs. Kaum ein Algorithmus den wir verwenden, ist älter als 1-2 Jahre. Diese Mischung aus spezifischen Kompetenzen bei gleichzeitiger Aktualität, ist aus dem Unternehmen heraus nur mit konzentriertem Aufwand, wenn überhaupt, zu lösen.

Das Thema braucht in jedem Fall die Aufmerksamkeit des Managements und sollte als die Chance begriffen werden, die es ist. Sonst besteht das Risiko den Anschluss zu verlieren, denn es ist absehbar, dass Endkunden weniger von Plattformen oder Marken kaufen werden, sondern von intelligenten, vollständig personalisierten Assistenten. Das wird in 5-10 Jahren einer der wesentlichen Absatzkanäle sein. Eine voll-digitale Infrastruktur ist dann “nur” noch Hygienefaktor.

 

„Hygienefaktor digitale Infrastruktur“

 

Jürgen Wulf: Wie kann ich mir als Kunde die Zusammenarbeit mit tetrel bei den Themen Datenformate, Prozesse, technische Anbindung, Einführungszeitraum, Schulungsaufwand etc. konkret vorstellen?

Johannes Humbert:  Ein Umstand, den wir EU weit beobachten, ist das nahezu vollständige Fehlen von Ausschreibungen.

Das ist nach unserer Einschätzung eine Folge von drei Varianten, sich dem Thema zu nähern:

  1. Verleugnen – das wird uns nicht so stark betreffen…
  2. Halbherzig angehen – unserer IT / Analytics Truppe macht das jetzt mal mit …
  3. Wegdelegieren – Wir haben IBM ins Haus geholt, Watson regelt das schon.

Kaum ein Unternehmen kann seinen Bedarf auf Management-Ebene selbstständig bemessen, formulieren und in strategischen Konzepten formulieren. Das ist ein Umstand, der massive Risiken für die Zukunftsfähigkeit aller betroffenen Unternehmen mit sich bringt.

Da wir uns als End-to-End-Anbieter verstehen, fangen wir also dort an, wo der Bedarf sitzt und beraten zum Thema KI und den möglichen Use Cases. Zum Einstieg aus einer generischen und Best Practice Perspektive, um dann gemeinsam die für unsere Partner relevanten Use Cases herauszuarbeiten. Die beiden entscheidenden Dimensionen dafür sind immer:

  1. a) hat einen relevanten Hebel für das Unternehmen und
  2. b) ist technisch machbar.

Erst wenn wir diese beiden Dimensionen erschöpfend analysiert haben, sprechen wir eine Empfehlung aus, was unserer Meinung nach die ersten Anwendungsfälle werden sollten.

Darauf folgt ein Proof of Concept, um unsere Annahmen zu verifizieren und das Modell aufzubauen. Falls dieser erfolgreich verläuft, bringen wir das Modell in Produktion und integrieren es beim Kunden.

Ob das dann via Rest- oder Soap-API, via Übergabe eines Docker Containers oder durch den Austausch von .csv-Dateien erfolgt, ist für uns erstmal nebensächlich. Wir richten uns da nach den Bedürfnissen unserer Kunden.

Dieser Ablauf ist natürlich exemplarisch zu verstehen und wird mit jedem Kunden individuell entlang der tatsächlichen Bedarfslage angepasst.

Hinzu kommt, dass durch die Verwendung von standardisierten Produkten die Zeiträume deutlich verkürzt werden können. So kann ein umfangreiches Projekt im Bereich der Texterkennung inkl. Hardware-Architektur, welches komplett neu aufgebaut wird, schon bis zu 12 Monaten dauern. Die Integration unserer B2B-Vertriebslösungen ist in der Regel aber nur eine Frage von wenigen Wochen.

 

Jürgen Wulf: Welche Erfahrungen haben Sie mit ihren ersten Kunden und Interessenten in Bezug auf deren Vorstellungen, Vorbehalte, Voraussetzungen und vor allem erste generierte Vorteile machen können?

Johannes Humbert: Ganz wichtig ist es aus unserer Sicht, dass wir als Partner der IT und vorhandenen Analytics Abteilung gesehen werden. Natürlich brauchen wir die Fachbereiche, um für diese als Dienstleister optimale Resultate liefern zu können. Womit wir aber immer wieder zu kämpfen haben, ist die Wahrnehmung, dass wir internen Stakeholdern Konkurrenz machen.

Das ist in Teilen auch ein Managementproblem. Interne Business Intelligence und Data Science Einheiten, droht immer noch politischer Gesichtsverlust, wenn sie externe Expertise zulassen. Dabei ist zum einen das Gebiet der KI so divers, das es kaum innerhalb eines Unternehmens vollständig erfasst, aktuell gehalten und umgesetzt werden kann, zum anderen bringen spezialisierte Lösungsanbieter oft vor-trainierte Modelle und spezifische Expertise mit, so dass das Rad nicht für jeden Anwendungsfall neu erfunden werden muss.

Im Idealfall werden wir irgendwann als Verbündete und eine Art “verlängerte Werkbank” wahrgenommen. Das bedeutet auch, dass der Vorstand seinem IT- Leiter auch den Freiraum lässt, Kompetenz von außen zuzulassen, ohne dabei eine Ansehensverlust zu fürchten. Das ist leider oft immer noch ein Spannungsfeld.

Am besten gelingen KI-Projekte immer dann, wenn sie über alle Ebenen hinweg begleitet und gewollt sind und als Teil eines Prozesses gesehen werden, in welchem das Unternehmen datengetrieben effizienter wird. Ganz wichtig ist dabei das Verständnis, dass es sich um einen Prozess handelt, in dem sukzessive eine Vielzahl von Themen angefasst und optimiert werden. Das führt natürlich auch zu Vorbehalten und rüttelt auch mal an der ein oder anderen “heiligen Kuh”. Deswegen ist es so relevant, das Thema strategisch zu begreifen und als langfristigen Veränderungsprozess zu gestalten.

 

„Schritt für Schritt zum KI-versierten Unternehmen“

 

Jürgen Wulf: Welche Einfluss- und Erfolgsfaktoren sind außerdem zu beachten?

Johannes Humbert: Der Aufbau von selbstlernenden Systemen steht und fällt oft mit den vorhandenen Daten. Paradoxerweise führt das oft zu bilateral irrationalen Entscheidungen. So werden oft sinnvollste Schritte im Bereich Texterkennung und Prozessautomatisierung nicht gegangen, weil es ein „vermeintliches“ Einvernehmen gibt, dass die Datenlage dies nicht zulässt – leider oft ohne umfassenden Kenntnisstand der heutigen Möglichkeiten, wie z.B. Trainingsdaten zu synthetisieren. Zum anderen werden Projekte aus Prestigegründen angestoßen und Anwendungen initiiert, die in den Grenzbereich des Machbaren fallen. Chatbots sind so ein Thema. Es gibt einen Grund, warum sowohl Google Duplex, als auch Siri von Apple sich heute noch nicht flüssig im Gespräch austauschen. Das wird zweifelsohne in den nächsten 5 Jahren kommen. Bisher ist es aber hoch experimentell, “Conversational AI” als Thema einzuführen, wenn Data Science nicht Kern der Unternehmenskompetenz ist.

Die Technologie als solche hat aber bereits in einfacheren Anwendungen das Potenzial, massive operative Effizienzen zu heben. Fast alle Prozesse in der Versicherung beginnen mit einem Dokument. Technisch gibt es keinen Grund, warum diese noch von einem Menschen gelesen werden sollten. Das gilt für den Antrag genauso wie für die Mail zur Änderung des Wohnorts oder die auf Facebook geäußerte Beschwerde zur nicht erfolgten Regulierung.

Klar umrissene Anwendungsfälle mit händelbarer Komplexität und belegbarem Geschäftswert sollten am Anfang der Transformation hin zu einem KI-versierten Unternehmen stehen. Mit jedem weiteren Schritt wächst dann die Kompetenz, Akzeptanz und auch das Verständnis für weitere Anwendungsfälle.

Die Relevanz des Themas kann dabei kaum unterschätzt werden. Wir leben in einer Zeit des Massensterbens von Unternehmen. Exxon Mobil war 1990 noch das zweitwertvollste Unternehmen der Welt. Heute ist es weniger Wert als das Privatvermögen von Jeff Bezos. Die Transformation der Wirtschaft ist im vollen Gange. Und wenn, um einen populären Vergleich zu bemühen, der Computer die Dampfmaschine für das Gehirn ist, dann verhält es sich mit den hergebrachten Methoden der Informationsverarbeitung zu Künstlicher Intelligenz, wie mit dem Schritt vom Pferd zum Automobil. In wenigen Jahren wird es uns abwegig erscheinen, ohne diese Technologie zu leben und zu arbeiten. Eine vergleichbare Revolution im Nutzerverhalten hat es einmalig eigentlich nur mit der Adaption von Smartphones gegeben und KI ist tatsächlich ja unabhängig von Endgeräten und Art der Anwendung, sondern wird sich kommend als Layer durch alle Softwareprodukte ziehen.

 

Jürgen Wulf: Lieber Herr Humbert, vielen Dank für die spannenden Einblicke und viel Erfolg mit tetrel!

 

In der Interviewreihe sind bisher erschienen:

 

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