Digitale Services gewinnen im Kontext der Kompositversicherung immer mehr an Bedeutung. Unsere Mandanten und alle weiteren Marktteilnehmer müssen sich im „Weiterdenken“ ihrer Geschäftsmodelle unter anderem auch mit den Mehrwerten dieser digitalen Dienstleistungen beschäftigen.

Gelegentlich besteht in der Kompositversicherung ein leichter Mangel an Transparenz, Einschätzung und Differenzierung zu Dienstleistungen. Wir als Weiterdenker für das Geschäftsmodell Komposit haben uns daher gegen diesen Mangel und für unseren Blog eine neue Interview-Reihe überlegt.

Die Interview-Reihe „Digital Services im Kerngeschäft Komposit“ bietet den Dienstleistern entlang von uns aus Sicht der Versicherer vorformulierten Fragen die Chance, sich zu präsentieren und zu positionieren.

Heute: Verändern Telematiklösungen doch noch die Kfz-Versicherung?

 

 

 

Interviewpartner heute: David Thüning,
Spearhead AG, http://www.spearhead-ag.ch

 

Carsten Nyhuis: Sehr geehrter Herr Thüning, bitte stellen Sie sich kurz vor.

David Thüning: Mein Name ist David Thüning. Ich bin seit 2 Jahren bei der Spearhead AG für den Versicherungsvertrieb in Deutschland verantwortlich.

 

Carsten Nyhuis: Digitalisierung, Internet-of-things, Always-online. Alles Schlagwörter, die in letzter Zeit immer wieder – auch im Zusammenhang mit der Schadenregulierung – zu lesen sind. SIM-Karten sind für Neuwagen mittlerweile eine Standardausrüstung. Gebrauchte Fahrzeuge werden mit Dongles und Sensoren nachgerüstet. Alles wird digitaler – und transparenter. Was ist eigentlich ein digitaler Schaden?

David Thüning: Es gibt keine digitalen Schäden. Ein Schaden ist immer real. Was sich aber für die Versicherungsbranche ändert ist der Schadensprozess, da dieser nun digitalisiert wird. Wir bei Spearhead nennen dies Schadenmanagement 4.0.

Schadenmanagement 4.0 zeichnet sich aus durch die Verwendung von digitalen Datenquellen wie z.B. Fahrzeug-Telematik, aber auch durch strukturierte Schadenmeldungen via digitaler Kommunikationskanäle wie Web-Portale oder mobile Apps.

Das Ziel von Schadenmanagement 4.0 ist es, durch Digitalisierung, Automatisierung und Einbindung von Big und Smart Data einen möglichst effektiven und effizienten Regulierungsprozess abzubilden.

Wichtig ist es hierbei, den Kunden nicht aus dem Auge zu verlieren. Wir wollen ihn mit Hilfe der digitalen Kommunikationskanäle proaktiv mit in den Prozess einbinden und die erforderliche Unterstützung geben.

 

Carsten Nyhuis: Dabei wird sicherlich eine erhebliche Menge von Daten generiert. Unabhängig von der Frage der Eigentümerschaft: Können Versicherer aus Ihrer Sicht diese Daten selbst auswerten und die entstandenen Informationen auch aufnehmen und anwenden?

David Thüning: Mit Sicherheit. Die zusätzlichen Daten aus einer standardisierten Schadenmeldung helfen nicht nur bei einer optimierten Regulierung, sondern bieten auch weiteren Nutzen für die Tarifierung und Bewertung der unterschiedlichen Schadenarten.

 

Carsten Nyhuis: Die konventionelle Schadenregulierung nutzt in der Regel maximal die Daten aus den Kostenvoranschlägen oder den altbekannten Kfz-Gutachten.Welche Chancen bieten sich dem Versicherer im Vergleich dazu bei Nutzung neuer Daten und Fahrzeuginformationen für die Schadenregulierung?

David Thüning: Für den Kunden ist ein Schadenereignis oftmals ein sehr unangenehmes und verwirrendes Ereignis, da es im Schnitt nur alle 8-9 Jahre eintritt.

Durch die unmittelbare digitale und automatische Meldung z.B. mit Fahrzeug-Telematik und einer Ersteinschätzung des Unfalls und des Schadenumfanges durch analytische Modelle, kann die Versicherung mit wesentlich mehr Informationen nun proaktiv auf den Kunden zugehen. Je nach Schadenart oder Beschädigung kann die geeignete Werkstatt empfohlen oder Alternativen wie z.B. eine vor-Ort-Besichtigung oder eine fiktive Abrechnung angeboten werden.

Der Kunde fühlt sich in dieser Ausnahmesituation ernst genommen und umsorgt. Und er bekommt von der Versicherung eine für seine Situation passende Unterstützung.

 

„Der Kunde erwartet in Zukunft vermehrt digitale Unterstützung in der Unfall- und Schadenbearbeitung durch seine Versicherung.“

 

Carsten Nyhuis: Telematiklösungen sind in den letzten Jahren in der Versicherungsbranche für Privatkunden nicht unbedingt eine Erfolgsstory.Sind Telematiklösungen also nicht eher für Flotten und Gewerbetreibende von Interesse?

David Thüning: Sowohl als auch. Die Vorteile der Lösung sind unterschiedlich. Während Flotten und Gewerbetreibende einen sofortigen Nutzen aus den Services und Wartungsdaten ziehen können, sieht der Privatkunde den Vorteil hauptsächlich in der Schadenregulierung und den Features einer Telematiklösung.

Ich denke, auf Grund der Mehrwertdienstleistungen, die eine Telematiklösung ebenfalls bietet wie elektronisches Fahrtenbuch, Status des Fahrzeuges über DTC (Diagnostic Trouble Code), Meldungen über Fahrzeugbewegungen etc. wird die Akzeptanz für Privatkunden in den nächsten Jahren steigen.

Ebenfalls erwartet der Kunde in Zukunft vermehrt digitale Unterstützung in der Unfall- und Schadenbearbeitung durch seine Versicherung.

Insbesondere bei jüngeren Kunden sind solche Self-Service Lösungen beliebt, da sie dem Bedürfnis nach einer flexiblen, selbstbestimmten und digitalen Kommunikation und Interaktion entsprechen.

 

Carsten Nyhuis: Predictive Analytics, die Vorhersage von Ergebnissen auf Grund von Erfahrungswerten und weiteren relevanten Einflüssen ist im Rahmen von Big Data ein großes Thema. Inwieweit spielt dies auch eine Rolle für den Kfz-Schaden?

David Thüning: Big Data und Smart Analytics machen keinen Halt vor der Versicherungswirtschaft – das ist für das Schadenmanagement 4.0.

Die während eines Unfalls aufgezeichneten Telematik-Daten bieten einen detaillierten Einblick in die Geschehnisse: kurz vor, während und nach dem Unfall.

Mittels dieser Telematik-Daten kann z.B. der Anstoßwinkel, die Aufprallgeschwindigkeit und die Krafteinwirkung sowie die Bewegung des Fahrzeugs im Raum automatisch ermittelt werden.

Diese Daten werden dann mittels Predictive Analytics Modellen verarbeitet und mit Erfahrungswerten aus historischen Schadensfällen verglichen. Somit erhalten wir eine erste Bewertung des Schadenbildes, der Schadenschwere und der zu erwartenden Reparaturkosten.

 

Carsten Nyhuis: Am Willen, die Schadenregulierung zu professionalisieren, mangelt es sicherlich nicht.Wo sehen Sie die größten Hürden für eine Optimierung der Schadenregulierung?

David Thüning: Den einfachen Schaden gibt es immer weniger. Dadurch liegen die Hürden sicherlich in der Komplexität der fachlichen und technischen Anforderung die verschiedenen Prozessteilnehmer zu verbinden. Ziel ist es, möglichst viele Schäden standardisiert und automatisiert zu verarbeiten – Stichwort: Dunkelverarbeitung.

Aus unserer Sicht sollte deshalb von Beginn an jeder Eingangskanal für eine Schadenmeldung möglichst strukturiert und standardisiert sein / werden.

Dies kann durch den Einsatz eines „dynamischen Fragenkatalogs“ geschehen. Dieser berücksichtigt die Besonderheiten des beschädigten Fahrzeugs und der jeweiligen Unfallsituation. So kann der Schaden schnell und einfach beschrieben, kategorisiert und mittels statistischer Modelle und historischer Vergleichsdaten analytisch ausgewertet werden.

So können erste Einschätzungen bezüglich der Schwere des Schadens, der Reparaturkosten und des am besten geeigneten Regulierungsweges automatisiert ermittelt werden. Die weiteren Prozessteilnehmer können dann digital einbezogen werden.

 

Carsten Nyhuis: Gutachten, Belegprüfung, Betrugserkennung … offensichtlich ist mittlerweile in jedem Kfz-Schaden ein Dienstleister involviert.Werden Versicherer mittlerweile abhängig von externen Dienstleistern?

David Thüning: Im Gegenteil. Durch die Spezialisierung der Dienstleister können sich die Versicherungen vermehrt auf Ihre Kernaufgabe konzentrieren. Die Unterstützung ihrer Kunden im „Moment der Wahrheit“.

Zusätzlich können die Versicherungen schneller die Vorteile der Digitalisierung für Ihre Geschäftsprozesse nutzen. Wichtig ist es weiterhin „Herr der Prozesse“ zu sein, um sich nicht in eine digitale Abhängigkeit zu bringen und weiterhin schnell auf alle marktüblichen Veränderungen reagieren zu können.

 

„Der größte Handlungsbedarf in den Prozessen des Kraftfahrzeug-Schadens besteht in der First Notification of Loss.“

 

Carsten Nyhuis: Ansatzpunkte für Optimierungen gibt es in den strategischen Handlungsfeldern Prozesseffizienz, Schadenaufwand und Servicequalität in Abhängigkeit zum Geschäftsmodell des Versicherers viele.Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf in der Kfz-Versicherungsbranche?

David Thüning: FNOL – First Notification Of Loss! Je eher der Versicherer von einem Schadenereignis weiß und eine Ersteinschätzung zur Verfügung hat, um so gezielter kann er reagieren. Dies hat Auswirkungen auf alle Handlungsfelder, also den gesamten Schadenregulierungsprozess.

 

Carsten Nyhuis: Unsere Beobachtung ist, dass viele Marktteilnehmer die  Servicequalität in den letzten Jahren zu Gunsten von Standardisierung und Automatisierungsvorhaben vernachlässigt haben (siehe auch Servicequalität im Schadenfall – strategisches Ziel zweiter Klasse?). Wie sehen Sie die Marktentwicklung?

David Thüning: Der Kostendruck macht die Automatisierung sicher zwingend notwendig und die Servicequalität hat bestimmt an der einen oder anderen Stelle darunter gelitten. Aber auch das Verhalten der Kunden und die daraus resultierenden Ansprüche an die Versicherungen haben sich geändert.

Insbesondere bei jüngeren Kunden sind z.B. Self-Service-Lösungen beliebt. Sie entsprechen dem Bedürfnis nach einer flexiblen, selbstbestimmten und Multi-Kanal-Kommunikation und Interaktion (Service Center, App, Kunden Web-Portal).

 

Carsten Nyhuis: Self-Services werden bereits heute in überschaubarem Umfang wie Adressänderungen, Deckungsanpassungen und weiteren Services von Versicherern für Ihre Kunden angeboten.Wird ein Schaden irgendwann auch einmal vollautomatisiert reguliert oder ist dies eher ein theoretisches Modell (Beispiel: https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:6442081933903089664)? Was wären die Voraussetzungen dafür?

David Thüning: Das wird nicht mehr allzu lange dauern. Zumindest für die Mehrheit der Schadenfälle. Die Grundvoraussetzung ist, dass ein Schaden strukturiert, standardisiert und End-to-End digitalisiert erfasst und bearbeitet wird.

Dies ermöglicht schon heute von der Unfallmeldung über die Schadenbeschreibung bis hin zur Bewertung und Steuerung in Werkstattnetze oder Sachverständigenorganisationen eine hoch automatisierte Schadenbearbeitung.

Selbstverständlich wird es immer einen Anteil von Schäden geben, die auf Grund ihrer Komplexität individuell bearbeitet werden müssen. Doch auch da hilft die Digitalisierung zumindest einen gewissen Teilprozess zu optimieren.

 

Carsten Nyhuis: Der Faktor Mensch wird auch in Zeiten von Automatisierung wichtig bleiben – wir glauben sogar in Zukunft werden die Anforderungen an die Mitarbeiter in den Schadenabteilungen der Versicherer sogar noch steigen (siehe auch: Fachlichkeit ist die DNA im Schadenbereich). Was glauben Sie, wie charakterisiert sich die Rolle des Schadenmitarbeiters in der Zukunft?

David Thüning: Ziel der Digitalisierung ist es, das Schadenmanagement möglichst weitgehend zu automatisieren. Somit wird die Mehrheit der Schäden zukünftig in einer Dunkelverarbeitung abgewickelt.

Selbstverständlich wird es aber immer auch komplexe Schadensituationen geben. Zusätzlich werden die Fahrzeuge immer mehr mit HighTech ausgestattet (Sensoren, Elektronik, Kompositmaterial). Dies bringt eine hohe Spezialisierung im Bereich Analyse und Bewertung mit. Somit sehen wir neben dem Rückgang an Volumen durch die Automatisierung eine Zunahme der Anforderungen an den Sachbearbeiter der Regulierung. Kurz gesagt: vom Generalisten zum Spezialisten

Carsten Nyhuis: Lieber Herr Thüning, vielen Dank für die spannenden Einblicke und viel Erfolg im Schadenmanagement 4.0.

 

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